Was kann Musik und Gesang beim Menschen auslösen? Inwiefern sind sie spirituelle Erfahrungen? Und was hat Karl Rahners Transzendentaltheologie damit zu tun? Eine spirituelle, theologische und philosophische Annäherung.
Zu Gast ist Constanze Huber von "weilmaglaubn".
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Das Wort Spiritualität bezeichnet heutzutage eine weit differenzierte Ansammlung an Bewegungen verschiedenster Art. Oftmals wird der Begriff auch als bewusster Gegenbegriff zu Religion verwendet – ganz unter dem Motto „spiritual but not religious“.
Die genaue Definition von Spiritualität zu finden, ist keine leichte Aufgabe. Grundsätzlich kann aber festgehalten werden, dass es sich hierbei um den direkten, spürbaren Kontakt mit einer den Menschen übersteigenden Größe handelt. In den verschiedensten Formen der Spiritualität ist dieser Kontakt auch unterschiedlich ausgelebt – so muss es sich bei dieser Größe nicht einmal zwangsläufig um eine übernatürliche Größe handeln, geschweige denn um einen persönlichen Gott, wie ihn das Christentum bekennt. In der Öko-Spiritualität beispielsweise wird die Verbindung mit der Natur als dasjenige Element anerkannt, das den Menschen in der Tiefe seiner Existenz anspricht und heilende Wirkung auf ihn ausübt. Auch in der christlichen Spiritualität gibt es unterschiedliche Richtungen, die von der intensiven evangelikalen Spiritualität bis zur ruhigen Verschwiegenheit der Mönche reichen. Im nicht religiösen Sinn wird Spiritualität auch bezeichnet als „Beschäftigung mit sich selbst“ – es scheint also ein zentrales Moment dieses gesamten Phänomens zu sein, sich 1) selbst in seiner Endlichkeit und seiner Begrenztheit zu erkennen und sich 2) im spirituellen Erkenntnisakt auf etwas Dahinterliegendes ausgerichtet zu sehen. Hier lässt sich theologisch die Brücke schlagen zu Karl Rahners einflussreicher Transzendentaltheologie, die den Menschen als das auf Gott hin geöffnete Wesen, ja als die „radikale Frage nach Gott“ begreift. Der Mensch ist sich mittels seiner Spiritualität einerseits seiner eigenen Begrenztheit bewusst, während er in einer spirituellen Erfahrung jedoch auch erkennt, dass da „noch mehr ist“ – dass er in seiner Begrenztheit nicht allein bleibt, dass sein Wesen eine Bewegung auf ein Höheres hin ist. Diese Erkenntnis, gewonnen im Vollzug einer spirituellen Praxis, wirkt sich heilend auf die menschliche Existenz aus. Diese muss nicht mehr die bedrohliche Ausrichtung auf den unvermeidlichen Tod in letzter Sinnlosigkeit bedeuten, sondern kann infolge dieser spirituellen Erfahrung als in eine den Menschen übersteigende Größe eingebettet gesehen werden; das Leben ist somit auf ein Mehr hin geöffnet.
Wie lässt sich dieser Umriss einer Definition von Spiritualität mit dem Begriff der Musik verbinden?
Zwar scheint es offensichtlich, dass Musik jedweder Art zu Grenzerfahrungen des Menschen führen kann, auch zu innerer Zufriedenheit, Freude und Begeisterung. Das Phänomen Musik geht jedoch theologisch gesehen weit über die bloße emotionsauslösende Reaktion hinaus. Musik kann, wenn die mit ihr verbundene Erfahrung als eine spirituelle gedeutet werden soll, den Menschen hineinversetzen in eben jene Lage der Erkenntnis seiner Begrenztheit, die sich in der Begegnung mit Musik doch auf ein umfassendes, dahinterliegendes Element hin ausgerichtet sieht.
Hier lohnt es sich, zwischen zwei Stufen dieser Möglichkeit spiritueller Erfahrung im Zusammenhang mit Musik zu unterscheiden: Einerseits die rein passiv-empfangende, hörende Stufe, andererseits die nächsthöhere Stufe der aktiven Teilnahme an der Musik, die – wie wir sehen werden – den Aspekt der Passivität nicht ausklammert.
Mit der ersten Stufe ist das bloße Zuhören bei einem musikalischen Werk gemeint – das kann in unterschiedlichen Formen stattfinden, vom ruhigen Sitzen in einem Konzertsaal bis zum ekstatischen Herumtanzen bei einem Livekonzert. Hier scheint der genannte Aspekt der Begrenztheit und Verwiesenheit schon ansatzweise auf: Der Mensch in seiner Begrenztheit fühlt sich durch die Musik in besonderer Weise angesprochen und auf etwas Dahinterliegendes verwiesen.
Aktive Teilnahme bringt nun noch mehr diese ursprüngliche spirituelle Erfahrung zum Vorschein: Im aktiven Schaffen von Musik, im Spielen eines Instruments wird der Mensch selbst zu der Person, die die Musik spielt. Diese Musik wirkt sich dann wiederum auf sein Erleben aus.
Und hier kommt ein Aspekt ins Bild, der mich selbst sehr betrifft: Ich singe schon praktisch mein ganzes Leben lang in einem Kirchenchor – der Jugendkantorei am Salzburger Dom. Ich möchte daher den Gesang als Form der Spiritualität hervorheben.
Singen scheint eine besondere Form von Spiritualität durch Musik zu sein. Im Singen betätigt der Mensch nicht einfach ein Instrument, das nicht Teil von ihm ist und nur durch ihn zum Schwingen gebracht wird, sondern der Mensch ist selbst das Instrument. Singen wird somit – anders als die Verwendung beliebiger Instrumente – zur Möglichkeit des wahren Selbstausdrucks des Menschen. Der Mensch kann hier nicht durch das gesprochene, sondern das gesungene Wort eingehen in die Tiefen menschlicher spiritueller Erfahrungen.
Das soll jedoch nicht so klingen, als wäre Musik oder Gesang eine Art Generator spiritueller Erfahrungen, der diese inklusive Tiefendimension sicher und verlässlich liefert. Gemeint ist vielmehr, dass Musik und vor allem Gesang die Möglichkeit einer tiefgehenden spirituellen Erfahrung eröffnen. Diese Erfahrung ist im Unterschied zu anderen Erfahrungen dieser Art mitgeprägt durch die Teilnahme am gemeinsamen Musizieren.
Im Hinblick auf Gesang in einem Chor erhält das eine weitere Facette, weil dabei auch der Aspekt der Gemeinschaft ins Spiel kommt. Hier tritt diese Erkenntnis der eigenen Begrenztheit und der Verwiesenheit auf etwas Größeres am deutlichsten zum Vorschein. Im gemeinsamen Singen ergeben sich zwei Einsichten: einerseits, dass eine Stimme allein natürlich nicht ausreicht, um ein mehrstimmiges Lied erklingen zu lassen. Andere Stimmen werden benötigt. Nach und nach entsteht ein immer vollerer Klang, das Lied beginnt zu leben. Es entsteht dabei eine gemeinsame Erfahrung, die über den einzelnen Menschen hinausgeht – ihn selbst also begrenzt und übersteigt. Gleichzeitig erkennt der Mensch die eigene Wichtigkeit und Eingebundenheit in diese Erfahrung.
Theologisch gesprochen: Die den Menschen transzendierende Größe – die Musik – wird im einzigartigen Vorgang des Singens zur direkten Erfahrung der lebensnahen und lebensechten Verwiesenheit des Menschen in ein stets größer bleibendes Geheimnis. Der Mensch steht dieser Größe nicht tatenlos und gleichsam hilflos ausgeliefert gegenüber, sondern erfährt im Gesang, dem innersten Ausdruck seines Wesens, seine direkte Verbundenheit mit einer Größe, die ihn übersteigt und dennoch im Akt des Singens seinem Wesen auf innigste Weise verbunden ist.
Ein weiteres Merkmal, das zeigt, wie wichtig Singen für spirituelle Erfahrungen ist, ist die Verbindung des gesungenen Textes mit dem inneren Ausdruck des Menschen durch seine Stimme. Auch wenn „bloße“ Instrumentalmusik dem Zuhörer den größtmöglichen Interpretationsspielraum lässt, so zeichnet sich gesungener Text durch eine einzigartige Qualität aus. Hier wird nämlich sowohl der Zuhörerin als auch vor allem dem Sänger die Möglichkeit gegeben, den Text auf einer höheren, spirituell-emotionalen Ebene nachzuvollziehen. Singen ist somit Ausdruck und Interpretation in einem! Der Sänger oder die Sängerin zeigt die Bedeutung des Textes durch seine oder ihre innigste, persönlichste Ausdrucksweise im Gesang.
Hier ergibt sich außerdem eine spannende Wechselwirkung: Der Text erhält durch den Gesang eine neue Bedeutung und kommt so näher zu seiner wahren Ausdrucksweise. Das ist vor allem für die SängerInnen signifikant: Im stimmlichen Ausdruck des Textes, der sie bewegt, werden sie durch den Text angesprochen und erkennen aber gleichzeitig, dass sie aktiv an dieser spirituellen Erfahrung teilnehmen. Der singende Mensch sieht sich selbst zugleich als Subjekt und Objekt dieses spirituellen Erlebnisses, er ist gleichzeitig aktiv-handelnder und passiv-empfangender Teil. Dieser „spirituelle Zirkel“ ist es, der Gesang zu einem der Grundvollzüge gelebter Spiritualität macht. Der Mensch lässt sich vom Liedtext bewegen, den er selbst in seinem Gesang auf individuelle Art und Weise ausdrückt. Er spricht also sich selbst an, indem er durch die von ihm ausgedrückte Musik sich als auf ein Geheimnis verwiesener Einzelner begreift. Dies scheint mir letzten Endes die deutlichste Ausformulierung der Definition von Spiritualität als „Beschäftigung mit sich selbst“ zu sein: Beschäftigung mit sich selbst durch Beschäftigung mit und Schaffen von Musik.
Um dieses Wechselspiel des Sängers oder der Sängerin zu verdeutlichen, würde ich gern das wunderschöne Abendlied von Rheinberger als Beispiel heranziehen. Das Lied ist eine Vertonung der Bibelstelle im Lukasevangelium, bei der Jesus, unerkannt von seinen Jüngern, gebeten wird, sie nicht zu verlassen und den Abend in ihrer Gesellschaft zu verbringen. Der Text allein scheint beinahe unauffällig – auf den ersten Blick die bloße Aufforderung, nicht zu gehen, da der Abend kurz davor ist anzubrechen: „Bleib bei uns, denn es will Abend werden und der Tag hat sich geneiget.“ Doch das Lied verleiht diesen wenigen Worten Bedeutung, die weit über die Worte selbst hinausgehen. Diese Bedeutung – Sehnsucht, Schönheit und Geborgenheit in Gemeinschaft – wird einerseits durch jeden Sänger und jede Sängerin nachvollzogen und ausgedrückt, während diese wiederum dem Lied eben jene Qualitäten erst verleihen. Erst dadurch, dass sie innerlich angesprochen sind und ihre persönlichen Gefühle ausdrücken, erhält dieses Lied seine berührenden Qualitäten. Das so gesungene Lied vermag jetzt wiederum jeden Menschen (ob im Publikum oder im Chor) in der Tiefe seiner Existenz anzusprechen, und der spirituelle Zirkel entsteht.
Das zeigt, dass Musik von höchster Bedeutung für eine lebendige Spiritualität ist. Um es erneut etwas theologischer zu formulieren: Durch Musik erkennt sich der Mensch als von einer ihn übersteigenden Größe angesprochen, sieht sich durch sie gleichsam in seiner Begrenztheit vor sich selbst gestellt und gerade darin auf ein Mehr verwiesen, das ihn wortlos innerlich anspricht. Religiös formuliert kann man sich Musik wie eine Leiter in den Himmel vorstellen, auf der uns Gott entgegenkommt. Durch gemeinsames Musizieren lässt sich die Stimme Gottes für den Menschen vernehmen.
Beim Singen erhält dieses Phänomen eine weitere spirituelle Facette: Hier ist der Mensch nicht bloß empfangendes Objekt einer Erfahrung, die auf ihn eintrifft. Er ist vielmehr zugleich handelndes Subjekt und empfangendes Objekt. Der singende Mensch lässt sich vom Liedtext bewegen, den er selbst in seinem Gesang auf individuelle Art und Weise ausdrückt; Er ist bewegt durch den Klang des Chores, dessen Teil er doch ist. Der singende Mensch spricht also letzten Endes sich selbst an, indem er durch die von ihm ausgedrückte Musik sich als auf ein Geheimnis verwiesener Einzelner begreift. Als Sänger „spricht“ er Musik aus, die ihn wiederum anspricht. Dies scheint mir letzten Endes die deutlichste Ausformulierung der Definition von Spiritualität als „Beschäftigung mit sich selbst“ zu sein: Beschäftigung mit sich selbst durch Beschäftigung mit und Schaffen von Musik.
Doch hat das alles Bedeutung für Jugendliche? Junge Menschen sind heute mit einem oft pessimistischen Weltbild konfrontiert. Verschiedene Krisen beherrschen die mediale Berichterstattung. Das kann Angst und Hoffnungslosigkeit auslösen.
In einer solchen Situation kann es helfen, zumindest temporär einzutauchen in eine sinnstiftende Aktivität. Doch inwiefern kann Singen sinnstiftend sein?
Viktor Frankl sieht eine Möglichkeit, Sinn im Leben zu erfahren, darin, dass man aktiv etwas kreiert. Selbstverwirklichung bedeutet für ihn, zum Beispiel etwas zu zeichnen, etwas zu schreiben, irgendetwas von sich selbst in diese Welt hinauszugeben. Ich denke, dass auch Singen zu diesen Aktivitäten dazugehört. Wie schon gesagt, ist Gesang eine Form innersten Wesensausdrucks, wir verleihen unseren Gefühlen und seelischen Regungen dabei die Möglichkeit, sich deutlich zu zeigen. Dabei erfahren wir beim gemeinsamen Singen gleichzeitig, dass wir mit unseren Gefühlen nicht allein sind: Jeder und jede bringt im Gesang innige Gefühle zum Ausdruck und verleiht dem jeweiligen Lied so seinen berührenden Charakter. Darüber hinaus zeigt sich das Publikum sichtlich gerührt. Andere Menschen sind also miteinbezogen in diese Verarbeitung seelischer Prozesse. Und auch wenn dieser Moment der Gemeinsamkeit, Verbundenheit und Darbringung der eigenen Gefühle nur kurz sein mag, blitzt darin doch für einen selbst und auch für andere das ewige Licht Gottes in der Welt auf und kann, wenn wir wollen, auch in unserem Herzen ein kleines bisschen länger leuchten.
„The song is ended (but the melody lingers on)” – Irving Berlin
Markus Oberschneider ist Theologiestudent und langjähriger Sänger in der Jugendkantorei Salzburg.