Digitale Gewalt - Eine Herausforderung, mit der sich hauptsächlich Jugendliche in ihrer Lebenswelt konfrontiert sehen. Ab wann sprechen wir von Cybermobbing und was können Counter-Speech-Strategien dem entgegen stellen? Und wie können wir Jugendliche für die Hürden der digitalen Welt rüsten?
In Episode #8 geben uns zwei Jugendleiterinnen der Katholischen Jugend Salzburg Einblick in ihren Arbeitsalltag mit diesem brisanten Thema - wertvolle Tipps inklusive!
Die Katholische Jugend Österreich bietet ein Train-the-Trainer-Seminar zu Cybergewalt an: 31.08.-02.09.23 in Salzburg.
Der hohe Anteil an Hate Speech, Cybermobbing und anderen Formen digitaler Gewalt im Internet betrifft vor allem junge Menschen: In einer repräsentativen Umfrage unter 1.200 Jugendlichen in Deutschland gaben 77% der Befragten an, im letzten Monat mit Hassbotschaften, extremen politischen Ansichten, Verschwörungstheorien, beleidigenden Kommentaren oder Fake News konfrontiert gewesen zu sein.[1] In einer repräsentativen österreichischen Studie unter 1.868 14- bis 19-jährigen Schüler*innen in Wien gaben sogar 95% der Befragten an, schon einmal Online-Übergriffe gesehen zu haben (z.B. negative Kommentare/Nachrichten, unangebrachte Fotos/Videos, unautorisierte Veröffentlichungen), knapp 63% waren selbst schon einmal davon betroffen.[2]
Jugendliche sind mit einer enormen Bandbreite unterschiedlichster Formen digitaler Gewalt konfrontiert, dazu zählen z.B. Hasspostings, öffentliche Bloßstellungen oder Belästigungen, ungewollte Konfrontationen mit schockierenden, pornographischen, diskriminierenden oder illegalen Inhalten, unautorisierte Veröffentlichungen von persönlichen oder manipulierten Bildern oder Videos, missbräuchliche Verwendung von Bildern/Videos oder Falschdarstellungen von persönlichen Inhalten, Online-Stalking bis hin zu digital übermittelten physischen Gewalt- oder Tötungsandrohungen.
Plattformbetreiber*innen, wie z.B. YouTube, Instagram oder TikTok, die besonders häufig von Jugendlichen genutzt werden, begegnen diesem Problem mit dem gezielten Löschen negativer Inhalte sowie der Blockierung oder Sperrung entsprechender User*innen-Accounts. Damit sind aber auch viele Probleme verbunden: Erstens haben automatisierte Such-Algorithmen aufgrund der großen Bandbreite an text- und bildbasierten Ausdrucksmöglichkeiten große Probleme, Hate Speech umfassend zu identifizieren.[3] Zweitens erfordert die Bewältigung der riesigen Mengen an negativen Inhalten, die durch User*innen gemeldet werden (Nutzung verfügbarer Meldefunktionen) eine große Anzahl menschlicher Content-Moderator*innen, um die gemeldeten Inhalte zu überprüfen; die damit einhergehende hohe psychische Belastung für die Moderator*innen führt zu oft wenig schlüssigen Entscheidungen.[4] Und drittens implizieren Verbotsstrategien Einschränkungen der Meinungsfreiheit und bergen die Gefahr, dass negative Inhalte auf unzensierte Plattformen verlagert werden, deren Nutzer*innen sich in ihren negativen Einstellungen gegenseitig verstärken.[5]
Daher entstand die Idee, nicht das Löschen in den Mittelpunkt zu rücken, sondern diesen negativen Inhalten gezielt Gegenreaktionen, d.h. Counter Speech, entgegenzusetzen. Gerade dann, wenn Online-Übergriffe unter Jugendlichen ausgetragen werden, haben jugendliche Counter-Speaker*innen besonders hohes Potenzial, jene jugendlichen Peers zu erreichen, deren Diskurs-Normen verändert werden sollen. Mit der Mobilisierung zu zivilcouragierter Counter Speech könnte zudem ein nachhaltiges humanistisches Zeichen gesetzt werden, dass Online Hass bzw. jede andere Form hasserfüllter Rhetorik und digitaler Gewalt nicht toleriert wird.
Counter Speech ist auf vielfache Weise gestaltbar und umfasst jegliche Form der Kommunikation (z.B. Videobotschaften, humoristische oder Widersprüche aufzeigende Memes / GIFs, faktenbasierte Gegendarstellungen, aktive Gegenrede durch Einzelpersonen), die sich solchen negativen Inhalten entgegenstellt oder diesen widerspricht.
Bislang vorliegende Studien[6][7][8] zeigen allerdings, dass Jugendliche überwiegend nicht handeln und Online-Übergriffe in der Regel ignorieren. Die Gründe, warum Jugendliche online sogar noch seltener intervenieren als offline[9] sind vielfältig und reichen von personenbezogenen Faktoren wie z.B. mangelnder Empathiefähigkeit bei der Wahrnehmung von Online-Übergriffen, geringer Überzeugung, dass das Eintreten für andere in Online-Umgebungen richtig ist, mangelnder Bereitschaft zur Verantwortungsübernahme in Online-Kontexten, bis hin zu situations- und kontextbezogenen Faktoren wie z.B. Geringschätzung der Schwere digitaler Gewalt im Vergleich zu analoger Gewalt, Kontextunsicherheiten in der Bewertung von Online-Übergriffen, oder Schwierigkeiten bei der Abschätzung des eigenen Interventionsrisikos in Online-Umgebungen.
Besonders problematisch ist aber, dass es Jugendlichen aus allen Bildungsschichten scheinbar massiv an Kompetenzen fehlt, wie Counter Speech erfolgreich gestaltet werden kann.[10] Gleichzeitig fehlt es an Wissen darüber, wie Jugendliche in ihrem Auftreten als Counter-Speaker*innen unterstützt werden können.
In einer aktuellen Studie der Universität Wien[11] wurde daher erstmals mittels Online-Rollenspielen, einer Inhaltsanalyse von YouTube-Daten und Online-Aktionsforschung untersucht, wie sich das Interaktionsverhalten 14- bis 18-jähriger Jugendlicher typischerweise gestaltet, wenn diese auf negative Inhalte im Internet reagieren und wie die konkreten Gestaltung von Counter Speech optimiert werden kann.
Die Ergebnisse zeigen, dass Jugendliche prinzipiell über ein breites Repertoire an unterschiedlichen Counter-Speech-Strategien verfügen, deren Großteil aber auf Täter*innen fokussiert ist (z.B. Warnungen, Abwertungen, Gegenattacken, Aufforderungen aufzuhören, sachliche Gegenargumente und Fakten, moralische Appelle). Counter-Speech-Strategien, die sich gezielt an das Opfer wenden (z.B. um zu trösten oder zu beraten), kommen deutlich seltener vor und finden vorwiegend im Privat-Chat statt. Sehr selten richten sich Counter-Speech-Strategien an andere Bystander*innen, um nach Unterstützung für das eigene Eintreten zu suchen.
Bei der Gestaltung von Counter-Speech-Strategien zeigen sich auch deutliche geschlechts- und bildungsbezogene Unterschiede: So kontern männliche Jugendliche mit höherem Bildungshintergrund eher überheblich, herablassend und genervt und heben gegenüber Täter*innen deren Unreife hervor. Burschen mit geringerer formaler Bildung versuchen eher, durch aggressive Gegenattacken ernst genommen zu werden. Weibliche Jugendliche mit höherer Bildung mahnen stärker die Beibehaltung einer zivilisierten Gesprächskultur ein und weisen klar auf Regelverstöße hin, Mädchen mit geringerer Bildung argumentieren eher moralisierend und zeigen sich gegenüber Täter*innen konfrontativer. Jugendliche mit höherer Bildung kombinieren Counter Speech häufiger z.B. mit inhaltlich passenden Memes (in Abhängigkeit der plattformspezifischen Möglichkeiten), um damit ihren Botschaften mehr Aufmerksamkeit zu verleihen und sind insgesamt in der sprachlichen Versiertheit (z.B. Formulierung von schlagfertigen Retourkutschen) und in der argumentativen Darlegung der eigenen Positionierung bei kontrovers diskutierten Themen klar im Vorteil.
Auffallend ist auch, dass Mädchen insgesamt über ein vielfältigeres Interventionsrepertoire als Burschen verfügen und auch gegenüber Opfern stärker unterstützend auftreten. Burschen setzen hingegen eher auf Ablenkung und Irritation anstatt auf konstruktive Lösungsversuche.
Häufig sind jugendliche Counter-Speaker*innen zunächst damit beschäftigt, sich als Counter-Speaker*innen überhaupt Gehör zu verschaffen: Dies geschieht teils mit aggressiven Kraftausdrücken, teils wird versucht, die Kommunikation mit Ablenkungstaktiken zu durchbrechen oder es werden deeskalierende Aufrufe getätigt. In vielen Fällen zeigen sich Jugendliche insbesondere bei sehr ausfälligen Übergriffen aber auch überfordert und reagieren darauf nur wenig oder kaum. Insbesondere bei Jugendlichen aus Schulen mit formell geringerer Bildung fällt auf, dass diese oft relativ lange inaktiv bleiben und insgesamt der Eindruck von Hilflosigkeit und Ohnmacht entsteht.
Der starke Fokus auf täter*innen-bezogene Strategien hinterließ in der Studie selbst bei engagierten Jugendlichen das Gefühl, mit den eigenen Interventionen letztlich erfolglos zu sein. Das eigene Auftreten als Counter-Speaker*in wurde als wirkungslos und anstrengend empfunden, mit höchstens punktuellen und kurzfristig Erfolgen. Das lag vor allem daran, dass die Wirkung und der Erfolg der eingesetzten Counter-Speech-Strategien für Jugendliche schlicht nicht erkennbar war, da Entschuldigungen oder Verhaltensänderungen von Täter*innen in der Regel nicht zu erwarten waren und auch positive und unterstützende Reaktionen durch andere Beobachter*innen, z.B. in Form von Likes oder Kommentaren, in der Regel ausblieben. Entsprechend werden gängige Strategien wie Blockieren, Melden, oder das weit verbreitete Ignorieren der Konflikte vergleichsweise als effizienter betrachtet als Counter Speech.
Besonders dann, wenn Online-Übergriffe bei fremden Personen beobachtet werden, ist es oft schwer einzuschätzen, was als Online-Übergriff bzw. Hate Speech gilt und was nicht, bzw. als wie schwerwiegend solche negativen Inhalte einzuordnen sind. Dementsprechend bleibt auch unklar, ob der eigene Counter-Speech-Einsatz überhaupt gefragt ist oder nicht. Dies ist umso schwieriger, je subtiler zum Beispiel Übergriffe formuliert werden (z.B. ohne Einsatz von „gängigen“ Schimpfwörtern), je unklarer bestimmte Diskriminierungsformen im gesellschaftlichen Wertegefüge eingeordnet sind (z.B. Transfeindlichkeit) und je komplexer sich Interaktionsverläufe darstellen. Die Schwierigkeiten in der Identifizierung von Hate Speech bedingen auch häufig Probleme mit der Identifizierung von Counter Speech, die potenziell unterstützt werden könnte, zumal diese in zumindest der Hälfte der analysierten Fälle als aggressive Gegenattacken formuliert waren.
Die Untersuchungsergebnisse zeigten auch, dass Jugendliche unter Counter Speech nicht unbedingt eine zivilcouragierte Handlung verstehen, sondern beispielsweise auch mit Formen der Zensur in Verbindung bringen, wie etwa die „Cancel Culture“, d.h. der systematische Ausschluss von bzw. Angriff auf Personen (was prinzipiell auch als wirkungsvoll eingeschätzt wird). Auch Reaktionen von Fan-Gruppen, die Celebrities unterstützen und Reaktionen des Opfers selbst werden als Counter Speech zugeordnet. Wahrgenommene Interventionen durch Dritte werden eher als unterhaltsam zu lesen wahrgenommen, aber nicht als mutiges Einschreiten betrachtet.
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Mobilisierung Jugendlicher zu Counter Speech in der Begegnung mit Hate Speech und anderen Formen digitaler Gewalt vor großen Herausforderungen steht. Dennoch lassen sich folgende Ansatzpunkte ableiten, wie ein solches Vorhaben gelingen könnte:
Um diese ambitionierten Ziele zu erreichen, wurden von den im Projekt involvierten Praxispartner*innen ÖIAT/Saferinternet.at[12] und dem Mauthausen Komitee Österreich[13] aufbauend auf diesen wissenschaftlichen Erkenntnissen jugendadäquate Unterstützungsangebote ausgearbeitet, um Jugendliche in ihrem Auftreten als Counter-Speaker*innen zu unterstützen, u.a. auch ein umfassendes Unterrichtmaterial für Lehrende[14], das dabei helfen soll, Jugendlichen Counter-Speech-Kompetenzen im Umgang mit wahrgenommener digitaler Gewalt zu vermitteln. Mit diesen entwickelten Materialien soll ein Beitrag geleistet werden, um zivilcouragierte Counter Speech als klares Zeichen gegen hasserfüllte Rhetorik und digitale Gewalt zu etablieren.
Dipl.-Soz. Mag.a Dr.in Christiane Atzmüller arbeitet am Institut für Soziologie der Universität Wien.
Zivilcourage 2.0 (univie.ac.at)
[1] Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest (Hg.). (2021): JIM Studie 2021: Jugend, Information, Medien. https://www.mpfs.de/fileadmin/files/Studien/JIM/2021/JIM-Studie_2021_barrierefrei.pdf
[2] Atzmüller, Christiane; Zartler, Ulrike; Kromer, Ingrid (2019a): Zivilcourage 2.0 - Zivilcourage von Jugendlichen im Umgang mit wahrgenommener Gewalt im Internet. Forschungsendbericht. KIRAS-Sicherheitsforschung, FFG.
[3] Gröndahl, T.; Pajola, L.; Juuti, M.; Conti, M.; Asokan, N. (2018): All You Need is “Love”: Evading Hate-speech Detection. https://arxiv.org/pdf/1808.09115.pdf
[4] Cobbe, J. (2020): Algorithmic Censorship by Social Platforms: Power and Resistance. Philosophy & Technology, 8(3), 270. https://doi.org/10.1007/s13347-020-00
[5] Chandrasekharan, E.; Pavalanathan, U.; Srinivasan, A.; Glynn, A.; Eisenstein, J.; Gilbert, E. (2017): You Can't Stay Here. Proceedings of the ACM on Human-Computer Interaction, 1(CSCW), 1–22. https://doi.org/10.1145/3134666
[6] Olenik-Shemesh, Dorit; Heiman, Tali; Eden, Sigal (2017): Bystanders' Behavior in Cyberbullying Episodes. Active and Passive Patterns in the Context of Personal-Socio-Emotional Factors. In: Journal of interpersonal violence 32 (1), S. 23–48.
[7] Van Cleemput, Katrien; Vandebosch, Heidi; Pabian, Sara (2014): Personal characteristics and contextual factors that determine "helping," "joining in," and "doing nothing" when witnessing cyberbullying. In: Aggressive behavior 40 (5), S. 383–396.
[8] Machackova, H., Dedkova, L., Sevcikova, A., & Cerna, A. (2018). Bystanders’ Supportive and Passive Responses to Cyberaggression. Journal of School Violence, 17(1), 99–110.
[9] Patterson, Lisa J.; Allan, Alfred; Cross, Donna (2016): Adolescent perceptions of bystanders’ responses to cyberbullying. In: new media & society 19 (3), S. 366–383.
[10] Atzmüller, Christiane; Zartler, Ulrike; Kromer, Ingrid (2019b): Online-Held*innen gibt es nicht? Was 14- bis 19-jährige Jugendliche an Zivilcourage im Internet hindert. Sozialwissenschaftliche Rundschau, 59. Jg., Heft 1, S. 87-109.
[11] Atzmüller, Christiane; Kröncke, Lina; Zartler, Ulrike (2022): Cyberheroes: Mobilisierung Jugendlicher zu Counter Speech im Umgang mit Online Hass, Cybermobbing und anderen Formen digitaler Gewalt. Forschungsendbericht. KIRAS-Sicherheitsforschung, FFG.
[12] https://www.saferinternet.at/
[13] https://www.mkoe.at/zivilcourageonline
[14] https://www.saferinternet.at/news-detail/neu-unterrichtsmaterial-hass-im-netz-kontern/