Was meint Armut und wen betrifft sie? Welche Auswirkungen hat sie auf das Leben eines (jungen) Menschen und welche Maßnahmen müssen getroffen werden um diesen Umstand zu ändern? In Österreich ist jedes fünfte Kind armuts- und ausgrenzungsgefährdet - ein guter Grund dafür näher hinzusehen!
Zu Gast ist Mag.a Martina Polleres-Hyll von der Caritas Wien.
Positionspapier der Katholischen Jungschar Österreichs
Episode #9: Jetzt auch auf Spotify, Apple Podcast, Amazon Music & Co anhören
Armut ist leider auch in Österreich täglicher Alltag von vielen Kindern. 2021 waren 20 Prozent der unter 18-jährigen (rund 320.000) armutsgefährdet und 368.000 armuts- oder ausgrenzungsgefährdet. Das entspricht jedem fünften Kind.
Keine andere Bevölkerungsgruppe (nach dem Alter) ist derart von Armut bedroht wie Kinder und Jugendliche. Das Risiko einer Armuts- oder Ausgrenzungsgefährdung ist für sie mit 23 Prozent ungleich höher als für die Gesamtbevölkerung (17 Prozent). Überdurchschnittlich gefährdet für ein Aufwachsen in Armut sind Kinder von Alleinerziehenden (47 Prozent sind hier armuts- oder ausgrenzungsgefährdet) und jene aus Haushalten mit mindestens drei Kindern (30 Prozent).[1] Die Teuerung droht diese Lage noch zu verschlimmern.
Armutsgefährdung bedeutet ein Einkommen unterhalb der Armutsgefährdungsschwelle (1.371 € monatlich für einen Ein-Personen-Haushalt in 2021). Armuts- oder Ausgrenzungsgefährdung liegt vor, wenn das Einkommen unter der Armutsgefährdungsschwelle liegt oder Personen erheblich materiell oder sozial depriviert sind oder in einem Haushalt mit keiner oder sehr niedriger Erwerbstätigkeit leben.[2] Neben dem Haushaltseinkommen sind auch Geschlecht, Bildungsstand der Eltern und Migrationshintergrund weitere Einflussfaktoren für Kinder- und Jugendarmut.
Dass Armut nicht selbst verschuldet ist und jede*n treffen kann, wird bei Kindern ganz besonders deutlich, denn Kinder suchen sich nicht aus, in welche Familie sie hineingeboren werden, wieviel finanzielle Mittel diese zur Verfügung hat und ob sie folglich Möglichkeiten haben, sich selbst zu verwirklichen.
Armut bedeutet, dass Chancen von Beginn an verbaut werden. Im Leben von Kindern geht es dabei um viele Einschnitte und zwar nicht nur im materiellen Sinn, denn sie bekommen Armut auf unterschiedlichen Ebenen zu spüren, sei es bei Bildung, Wohnen, Gesundheit oder sozialer Teilhabe. Auch gesundes Essen oder angemessene Kleidung sind für viele nicht selbstverständlich.
Armutsbetroffene Kinder haben geringere Bildungschancen. Der Schulerfolg ist sehr stark davon geprägt, was sich das Kind selbst und was ihm sein Umfeld zutraut, und nachdem im österreichischen Bildungssystem die soziale Herkunft hierfür ausschlaggebender ist als die Begabung des Kindes, sind die Ausbildungslaufbahnen von armutsbetroffenen Kindern kurz. Daneben bestehen Unterschiede in der Qualität von Schulen und es kann keine Nachhilfe genommen werden, weil sie zu teuer ist. Ebenso wenig können andere Angebote, durch die das Kind auch außerhalb der Schule gefördert würde, genutzt werden. Und es ist auch entscheidend, ob das Kind unter den existentiellen Sorgen der Familie leidet oder mit freiem Kopf zur Schule gehen kann.
Die Lernfähigkeit hängt auch mit der schlechteren Wohnsituation zusammen, in der armutsbetroffene Kinder leben. Wenn die Wohnung zum Beispiel überbelegt, kein eigenes Kinderzimmer vorhanden oder die Umgebung aufgrund des Verkehrsstandorts zu laut ist, kann nicht konzentriert für die Schule gearbeitet werden.
Der Wohnbereich hat aber auch noch andere Dimensionen. Armutsbetroffene leben eher in zu dunklen Räumen, die Fenster sind undicht und vielen Familien ist es nicht möglich, die Wohnung angemessen zu heizen, eine Problematik, die sich aufgrund der aktuellen Teuerung noch weiter verschärft hat. Die finanziellen Mittel fehlen aber auch, um sich zu Hause vor extremer Hitze zu schützen, und nachdem sie hauptsächlich zur Miete wohnen, haben sie zusätzlich auch gar nicht die rechtlichen Möglichkeiten dazu, Sanierungsmaßnahmen vorzunehmen oder Außenjalousien anzubringen.
Daneben hat die schlechte Wohnsituation eine Gesundheitskomponente. Aufgrund ihrer Lage sind Wohnungen von armutsbetroffenen Haushalten mehr Schadstoffemissionen ausgesetzt und eine Lärmbelastung führt zu verringerter Schlafqualität. Durch feuchte und schimmlige Wohnungen können Atemwegserkrankungen auftreten, denen bei chronischer Belastung Asthma und Allergien folgen können. Überbelegung und zu enger Wohnraum können auch zu psychischer Belastung von Kindern führen, wenn Konflikte entstehen und ihnen Rückzugsmöglichkeiten fehlen.
Generell sind armutsbetroffene Kinder öfter krank und negativ auf ihre körperliche Gesundheit wirkt sich außerdem aus, wenn für sie keine Sportgeräte wie Fahrrad oder Roller angeschafft werden können.
Armut hat bei Kindern auch Einfluss auf ihre soziale Teilhabe. Sie können es sich nicht leisten, Freizeit- und Sportaktivitäten wie Tennis auszuüben, ins Kino zu gehen oder erfahren Einschränkungen bei der Teilnahme an kostenpflichtigen Schulveranstaltungen oder der Nachmittagsbetreuung, was zu einem sozialen Ausschluss führen kann.
Eigene Geburtstagsfeste können nicht veranstaltet und andere können nicht besucht werden, weil kein Geschenk mitgebracht werden kann oder Angst vor der Verpflichtung einer Gegeneinladung besteht, der man nicht nachkommen kann. Mitunter erzählen Kinder ihren Erziehungsberechtigten gar nicht mehr von den Feiern, weil sie wissen, dass sie es sich nicht leisten können. Wenn Kinder dann als Folge überhaupt nicht mehr eingeladen werden, erhöht das weiter ihr Risiko, zu vereinsamen und sich in einer Außenseiter*innen-Rolle wiederzufinden. Das kann weiters zu einem vorzeitigen Schulabbruch sowie zu einer höheren Wahrscheinlichkeit psychischer Erkrankungen führen.
Kinder merken sehr schnell, dass sie anders sind. Sie verspüren Druck, ihre prekären Verhältnisse zu verstecken. So erfinden sie Ausreden, warum sie nicht am Schulausflug teilnehmen oder warum keine Freund*innen nach Hause eingeladen werden können. Während andere Mitschüler*innen vom Urlaub nach den Sommerferien oder vom Schi-Erlebnis nach den Semesterferien berichten, ist das für armutsbetroffene Kinder undenkbar. Sie können nicht mitreden und schämen sich dafür.
Armut wirkt sich gravierend auf alle kindlichen Lebensbereiche aus, die sich teilweise auch wiederum gegenseitig bedingen. Dabei sind Armut und ihre Folgen nicht immer von außen sichtbar. In Armut aufwachsen bedeutet Einschränkungen im täglichen Leben und bei Grundbedürfnissen – und das in einem Land, das so reich ist wie Österreich und das sich zu Rechten bekannt hat, die eigentlich genau das Gegenteil absichern sollen.
Laut Artikel 27 der UN-Kinderrechtskonvention hat jedes Kind das Recht auf einen seiner körperlichen, geistigen, seelischen, sittlichen und sozialen Entwicklung angemessenen Lebensstandard. In erster Linie ist es Aufgabe der für das Kind verantwortlichen Personen im Rahmen ihrer Fähigkeiten und finanziellen Möglichkeiten die Lebensbedingungen, die für die Entwicklung des Kindes notwendig sind, sicherzustellen. Jedoch haben die Vertragsstaaten geeignete Maßnahmen vorzusehen, um bei der Verwirklichung dieses Rechts zu helfen. Damit haben sie bei Bedürftigkeit materielle Hilfs- und Unterstützungsprogramme vorzusehen, insbesondere was Ernährung, Bekleidung und Wohnung betrifft, und auch im Hinblick auf die Geltendmachung von Unterhaltsansprüchen. Artikel 26 sichert zusätzlich das Recht auf soziale Sicherheit ab.[3]
Österreich hat sich dazu verpflichtet, Kinderrechte zu achten, indem es die Kinderrechtskonvention 1992 ratifiziert hat. Teilweise wurde diese 2011 auch in den Verfassungsrang gehoben.
Daneben hat sich Österreich ebenfalls zur Umsetzung der Agenda 2030, die 2015 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen von allen 193 Mitgliedstaaten verabschiedet wurde, bekannt. „Keine Armut“ bildet dabei eines der 17 Ziele für eine Nachhaltige Entwicklung. Demnach soll bis 2030 der Anteil der Männer, Frauen und Kinder jeden Alters, die in Armut in all ihren Dimensionen nach der jeweiligen nationalen Definition leben, mindestens halbiert werden.[4]
Von diesem Ziel sind wir in Österreich leider noch weit entfernt. Deswegen ist der Schwerpunkt, den sich die Bundesjugendvertretung (BJV) 2018 mit ihrer Kampagne setzte, immer noch höchst aktuell.
Mit der Kampagne „Armut ist kein Kinderspiel“ wollte die BJV, die gesetzlich verankerte Interessenvertretung aller Kinder und Jugendlichen bis 30 Jahre in Österreich, auf die Problematik von Armutsgefährdung bei Kindern aufmerksam machen und zeigen, wie sich Armut auf das Leben von Kindern auswirkt.
Im Zuge der Kampagne wurden mehrere Videospots veröffentlicht, öffentliche Aktionen durchgeführt und Veranstaltungen organisiert. Persönliche Gespräche mit Politiker*innen aus unterschiedlichen Bereichen wurden geführt. Kinder kamen auch selbst zu Wort: So wurden zum Beispiel knapp 50 Beiträge zu der Frage eingesendet, was sie brauchen, damit es ihnen gut geht. Aus diesen Kreativbeiträgen gestaltete die BJV Postkarten für eine Pflück- und Wanderausstellung.
Die Kampagne richtete sich einerseits an die Öffentlichkeit, um für das Thema zu sensibilisieren, andererseits an die Politik, um den Handlungsbedarf und Forderungen aufzuzeigen, von denen einige leider immer noch aktuell sind:
Kinder haben ein Recht auf Beteiligung. Deswegen hat die BJV im Rahmen ihrer Kampagne in Zusammenarbeit mit dem Institut für Soziologie an der Universität Wien auch die explorative Studie „Was alle Kinder brauchen“ durchgeführt und dabei Kinder zwischen sieben und zwölf Jahren befragt, was sie für ein gutes Leben benötigen.
Ihre Forderungen beinhalten die gezielte finanzielle Unterstützung von Menschen, damit für alle wichtige Dinge des täglichen Lebens verfügbar sind. Treffend bezeichnet dies eine Aussage der neunjährigen Mayla: „Wenn jemand kein Geld hat, dann muss man es billiger machen. Dann müssen sie [Politiker*innen] den Menschen Geld geben.“
Weiters sollen ihrer Meinung nach Betreuungseinrichtungen eine förderliche Umgebung haben, weshalb in Grünflächen, Bewegungsmöglichkeiten und gesunde Ernährung investiert werden soll. Eine weitere Empfehlung war mehr Raum zur kostenfreien Freizeitgestaltung. Dabei geht es um mehr öffentliche freie Flächen, Plätze zum Spielen in der Natur sowie Spielplätze und Jugendzentren. Es braucht aber auch gezielte finanzielle bzw. materielle Unterstützung für den Zugang zu Aktivitäten (Sport, Musik etc.), wie die Zitate „Ich wollte gerne Ballerinerin [sic] spielen, aber das ist so teuer.“ und „Schwimmen – das ist manchmal sehr teuer.“ verdeutlichen.
Die Ergebnisse zeigen, dass Kinder sowohl materielle Güter und Leistungen, die Geld erfordern, als auch immaterielle Ressourcen wie Glaube, Glück, Frieden und Selbstbestimmung als wichtig für ihr Leben empfinden. Neben Familie, Freund*innen und Freizeit sehen die befragten Mädchen und Buben eine gute Bildung, Ernährung, Kleidung, Wohnsituation und Gesundheit als unabdingbar für ein gutes Kinderleben. Außerdem haben sie ein großes Bewusstsein für Ungerechtigkeiten und sprechen sich für die Gleichbehandlung aller Kinder aus, vor allem auch wenn es um Kinder anderer Herkunft oder Sprache geht.
Eine der Forderungen der BJV-Kampagne war die Durchführung einer neuen Kinderkostenstudie, da noch bis vor kurzem die Richtwerte für finanzielle Maßnahmen auf Basis von mehr als 50 Jahre alten Daten berechnet wurden. Um Kindern einen angemessenen Lebensstandard zu ermöglichen, ist es jedoch wichtig, dass die dafür notwendigen Ausgaben den aktuellen Bedürfnissen der Kinder und deren Lebensrealitäten entsprechen. 2021 wurde diese langjährige Forderung mit der Neuauflage der Kinderkostenanalyse umgesetzt, aber eine andere ist immer noch ausständig und zwar die nach dem Nationalen Aktionsplan Kindergarantie. Bereits im März 2022 hätte Österreich diesen der EU-Kommission im Rahmen der Europäischen Kindergarantie vorlegen müssen. Bis jetzt ist das nicht passiert, dabei wäre der Aktionsplan ein wichtiger Beitrag zur Reduktion von Kinderarmut.
Umgesetzt wurde mittlerweile auch die Valorisierung der Familienbeihilfe und anderer Transferleistungen, aber es gibt noch Handlungsbedarf in vielen Bereichen.
Denn es darf nicht sein, dass sich Familien gerade entschieden müssen, ob sie heizen oder Essen kaufen, oder zu anderen Maßnahmen greifen müssen, um das Kind vor Kälte zu schützen, wie ihm auch daheim Winterkleidung anzuziehen. Und es darf auch nicht sein, dass Kinder sich mitverantwortlich fühlen und darum bemühen, bei sich einzusparen.[5]
Es braucht eine langfristige Strategie gegen Kinderarmut. Eine wichtige Maßnahme wäre hier die Kindergrundsicherung, bei der allen Kindern ein gleicher monatlicher Grundbetrag zusteht und zusätzlich ein einkommensabhängiger Betrag ausbezahlt wird, der mit sinkendem Einkommen der Erziehungsberechtigten steigt.
Das muss einhergehen mit dem Ausbau von Sachleistungen und sozialer Infrastruktur. Es braucht umfassende Maßnahmen, die bei der Lebenssituation der Betroffenen ansetzen und Rahmbedingungen verbessern, wie Kinderbetreuung, um Berufstätigkeit zu ermöglichen. Weiters braucht es ganztägige Schulen, Unterstützung bei schulischen Ausgaben, konsumfreie Räume, kostenlose Freizeitangebote und Gesundheitsversorgung sowie soziale Sicherheit müssen gewährleistet sein. Mehr Mittel für thermische Sanierungen haben ebenfalls viel Anknüpfungspotential. Diese würden die Wohnsituation von armutsbetroffenen Haushalten deutlich verbessern, werden von diesen begrüßt und sind daneben noch eine bedeutende Klimamaßnahme.[6]
Die Kinder, die im Rahmen der BJV-Kampagne befragt wurden, erkennen, dass ein angemessener Lebensstandard an die finanziellen Möglichkeiten der für sie verantwortlichen Personen gekoppelt ist. Sie wissen, dass es monetäre Mittel braucht, um notwendige materielle Bedürfnisse zu erfüllen. Die Politik muss diese Notwendigkeit ebenfalls erkennen und die Anliegen und Empfehlungen der Kinder ernst nehmen. Familien, die weniger haben, müssen finanziell unterstützt werden, damit kein Kind zurückgelassen wird. Nur so können Armutskreisläufe durchbrochen werden.
Es ist genug jetzt! Es muss dringend ein Bewusstsein für Kinderrechte geschaffen und Kinderrechte müssen auch umgesetzt werden. Denn alle Kinder in Österreich haben das Recht darauf, gut aufzuwachsen – unbeschwert, ohne existenzielle Sorgen, ohne Armut!
Weitere Informationen zur Arbeit der BJV zu dem Thema: https://bjv.at/gleichberechtigung/armut/
Mag.a Sarah Zauner, LL.M. ist Referentin für Kinder- und Jugendpolitik in der
--------------------------
[1] EU-SILC: https://www.statistik.at/fileadmin/pages/338/Tabellenband_EUSILC_2021.pdf.
[2] EU-SILC.
[3] UN-Kinderrechtskonvention: https://www.unicef.de/informieren/ueber-uns/fuer-kinderrechte/un-kinderrechtskonvention .
[4] Agenda 2030: https://www.un.org/depts/german/gv-70/band1/ar70001.pdf
[5] Gesundheit Österreich Gmbh: https://jasmin.goeg.at/2769/1/MultipleBelasungen_Winter22_23_bf.pdf
[6] Gesundheit Österreich GmbH