Was ist Inklusion und wie kann sie in der Kinder- und Jugendpastoral gelingen? Bieten uns Bibel und Kirche die dafür notwendigen Bilder oder ist eher das Gegenteil der Fall? Was braucht es in der Arbeit mit Heranwachsenden um Berührungsängste abzubauen und Teilhabe für alle zu gewährleisten?
In Episode #7 ist Host Sophie Mayr im Gespräch mit Gregor Steininger, MEd.
Masterarbeit Gregor Steininger
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Der vorliegende Artikel trifft auf ein Verständnis von Inklusion als ein gemeinsames, prozesshaftes Miteinander im Sinne einer kritisch-reflexiven Auseinandersetzung. Im Hintergrund dessen steht daher die Frage nach den Gelingensbedingungen für die pastorale Praxis, die in einem Dreischritt dargelegt wird.
Kirche hat seit jeher ein sehr ambivalentes Verhältnis[1] zu Behinderung, welches sich in der Theologiegeschichte bis heute zeigt. Dies hat vielfältige Gründe, ist aber unter anderem darauf zurückzuführen, dass die Kirche lange Zeit die Vorstellung vertrat, Behinderung sei als eine Strafe Gottes zu lesen, mehr noch, Menschen mit Behinderung sind der Inbegriff des Bösen und vom Teufel besessen. An solch zerstörerischen Stereotypen wird in bestimmten christlichen Kreisen auch heute noch festgehalten. Es ist ein deduktiver Begründungszusammenhang dessen sich die Theologie hier bedient, indem sie aus einer Behinderung ganz allgemein ein bestimmtes fehlerhaftes, sündiges Tun ableitet. Die Dynamik eines strafenden, richtenden Gottes ist bestimmten Gottesbildern geschuldet, wie sie in der deuteronomischen Geschichtstheologie vorherrschen und die von der Seelsorge allzu oft unkritisch übernommen werden. Weitere von der christlichen Theologie über Jahrhunderte angewandte Deutungsweisen zur Frage, was Behinderung ist – eine Glaubensprüfung, der über Generationen tradierte Verstoß oder die Schande einer Familie –, können theologisch ebenfalls der skizzierten Denkrichtung zugeschrieben werden.
Auch wenn zahlreiche Wissenschaftler:innen diese stark verengten theologischen Annahmen in ihren bibelhermeneutischen Auslegungen als nicht haltbar ausweisen[2], wirken sie dennoch in vielen Bereichen des theologisch-kirchlichen Lebens nach. In Abschnitt 47 des apostolischen Schreibens Amoris Laetita aus 2016 vertritt auch Pabst Franziskus ein sehr reduktives Bild von Behinderung, indem Menschen mit Behinderung eine Prüfung für ihre Familien sind, die Heil und Hoffnung brauchen. Dies lässt darauf schließen, dass kirchlicherseits der Perspektivenwechsel zu Inklusion, das heißt vom behinderten Menschen als caritatives Objekt zum gleichberechtigten Subjekt der Selbstbestimmung, noch nicht vollzogen ist. [3]
Integration wird in Anlehnung an Gottfried Biewer, Professor für Heil- und Sonderpädagogik an der Universität Wien, als ein differenziertes System beschrieben, bei dem der Fokus auf der Aufnahme von Menschen mit Behinderung in ein bereits bestehendes System liegt. Unterschieden wird hierbei zwischen behindert und nicht-behindert. Dabei kommt es wesentlich zu einer Etikettierung behinderter Menschen, für die extra Ressourcen und Rahmenbedingungen in einer Gesellschaft geschaffen werden müssen. Heterogenität wird daher infolgedessen eher als ein Problem, anstatt als ein Gewinn gesehen, wie nachfolgende Grafik zeigt:[4]
[5]Abb1: Inklusion
Inklusion ist allerdings mehr als eine ethische Werthaltung, auch wenn diese unbestritten als dessen Basis eines zwischenmenschlich-gesellschaftlichen Handelns und Zusammenlebens gesehen werden kann. Mit dem Beschluss der UN-Behindertenrechtskonvention auf internationaler Ebene (Vereinte Nationen, 13. Dezember 2006) und der Ratifizierung Österreichs (2008) ist die Forderung nach Inklusion sowohl international auch national rechtlich verankert.
Fraglos lässt sich feststellen, dass mit dem Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention der Inklusionsdiskurs in Kirche und Theologie von außen an sie herangetragen wurde, gleichzeitig aber an Bedeutung gewonnen hat. Die Inklusion von Menschen mit Behinderungen wird damit neben einem anthropologischen, pädagogischen und sozialen Soll-Anspruch zu einem politisch-rechtlichen Muss-Anspruch. [6]
In diesem Muss-Anspruch können Theologie, so die deutsche Religionspädagogin Mirjam Schambeck und die Didaktikerin Sabine Pemsel-Maier, „sowohl als Rezipienten, als Motor, als Impulsgeber wie auch als kritischer Wächter fungieren“[7]. Das Prinzip Inklusion ist zwar nicht ausschließlich, „aber auch christlich motiviert und theologisch fundiert, weswegen Theologie und Kirche verpflichtet sind, ihre Stimme einzubringen, als auch selbst in ihren Einrichtungen und Arbeitsfeldern Inklusion zu realisieren. Der Auftrag zur Inklusion lässt
sich nicht einfach an Caritas und Diakonie delegieren, sondern betrifft alle Felder kirchlichen Handelns.“[8]
Eben darum muss sich Inklusion auch als Fundamentalkategorie christlicher Religion verstehen[9]:
Vor diesem Hintergrund stellt sich umso drängender die Frage: „Welchen konzeptionellen Beitrag kann die Theologie zur Verwirklichung des Inklusionsprinzips als Schlüsselbegriff der UN-Behindertenrechtskonvention leisten?“[10] Dieser Anfrage soll nun im Folgenden nachgegangen werden und anhand des kirchlichen Praxisfelds der Kinder- und Jugendpastoral entfaltet werden.
Die Kinder- und Jugendpastoral dient uns, wie auch das Praxisfeld Schule, als Spiegel der Gesellschaft. Im Besonderen sei hier an den pfarrlichen Erstkommunion- und Firmunterricht, an Jungschar-, Jugend-, und Ministrant:innenstunden aber auch an die pfarrlichen Kinder- und Jungendlager gedacht, die als Kontextverortung für dieses Kapitel dienen. Hier steht die Theologie, anders als sie das beispielsweise in der Erwachsenenbildung tut, gewissermaßen auf dem Prüfstand, an dem sich zeigt wie gut (umfassend gelebte) Inklusion funktioniert.
Kinder- und Jugendliche sind im Unterschied zu Erwachsenen oft weniger voreingenommen, wenn es um Differenzen und Verschiedenheit geht. Sie nehmen Pluralismus wahr, vielleicht entstehen im ersten Moment auch Berührungsängste, wenn sie auf ein Gegenüber treffen, dass eine andere Sprache spricht, eine andere Nationalität, Hautfarbe bzw. ein anderes „besonderes“ Körpermerkmal hat oder eben auch mit einer Körper-, Sinnes-, oder psychischen Behinderung lebt. Auch Menschen mit Lernschwierigkeiten innerhalb einer Kinder- und Jugendgruppe dürfen an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben. Das Verbindende und die Neugier stehen aber über dem Trennenden und Vorurteile und Unsicherheiten zerstreuen sich schnell.
Auf der anderen Seite verweist die Anti-Bias-Forschung[11], dass sich bereits Kleinkinder erste gesellschaftliche geprägte Denkweisen, Stereotypen und Vorurteile aneignen, weshalb daher schon im frühen Kindes- und Jugendalter mit pädagogischer Bewusstseinsbildung begonnen werden muss.[12]
Mit anderen Worten: Je besser es Theolog:innen, Pädagog:innen sowie haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeiter:innen in den Pfarren gelingt in der Kinder- und Jugendpastoral Diversität zum Thema zu machen (Alter, Geschlecht, Nationalität, sexuelle Orientierung, Religion, Behinderung…), gemeinsam über Machtpositionen und Vorurteile zu reflektieren, Stereotypen zu dekonstruieren und Sensibilität für Diskriminierungsphänomene zu schaffen, desto besser wird Inklusion als gesamtgesellschaftliche Aufgabe eines friedvollen und gerechten Zusammenlebens gelingen. Die Kinder- und Jugendpastoral wird so zu einem Motor und Impulsgeber für das Prinzip Inklusion.
Wie die gebotene Sensibilisierung und Bewusstseinsbildung vor dem Hintergrund des Gesagten aussehen kann soll nun am Beispiel von Menschen mit Behinderung illustriert werden:
Im Allgemeinen braucht es eine Theologie VON, FÜR und MIT Menschen mit Behinderung, die ich in meiner Masterarbeit „Inklusion als partizipativer Prozess im Kontext einer Theologie der Behinderung“ in Form eines mehrdimensionalen Perspektivenmodells[13]dargelegt habe.
Um das Prinzip Inklusion (innerhalb der Theologie) voranzutreiben gilt es hinzuschauen welche Sprache und Gedankenwelt sich in Bibeltexten (als die Offenbarung jüdisch-christlicher Religion) in Bezug auf Menschen mit Behinderung findet und auch außerhalb eines christlichen Milieus Einfluss auf die Gesellschaft hat.
„Dann sagte er zu dem Gastgeber: Wenn du mittags oder abends ein Essen gibst, so lade nicht deine Freunde oder deine Brüder, deine Verwandten oder reiche Nachbarn ein; sonst laden auch sie dich ein, und damit ist dir wieder alles vergolten. Nein, wenn du ein Essen gibst, dann lade Arme, Krüppel, Lahme und Blinde ein. Du wirst selig sein, denn sie können es dir nicht vergelten; es wird dir vergolten werden bei der Auferstehung der Gerechten.“ (Lk 14,12-14)
Es ist höchst bedenklich, welche Deutungsstrategien und Differenzvorstellungen in neutestamentlichen Texten zu finden sind[14]:
Deutungsstrategie |
Differenzvorstellung |
Wirkung |
Kontrastierung |
Menschen mit Behinderung werden Menschen ohne Behinderung gegenübergestellt |
Betonung der Differenz |
Subsumierung |
Menschen mit Behinderung werden unter einer sozial isolierten Gruppe zusammengefasst |
Umdeutung der Differenz |
Infantilisierung |
Menschen mit Behinderung werden sämtliche Fähigkeiten und Kompetenzen abgesprochen |
Konstruktion von Hilflosigkeit |
Anonymisierung |
Menschen mit Behinderung werden nicht als einzelne Individuen wahrgenommen |
Missachtung der Individualität |
Metaphorisierung |
Menschen mit Behinderung dienen als Gegenbild zu einer heilen Wirklichkeit |
Konstruktion von Normalität |
Aufgabe der Kinder- und Jugendpastoral muss es daher sein Differenzvorstellungen und ihre Wirkung im Prozess des Theologisierens und Philosophierens mit Kindern und Jugendlichen[15] zu reflektieren und aufzubrechen (dekonstruieren). Wenn diese Aufgabe einer inklusiven Leseart gelingt, kann zu einem tieferen Verständnis des Evangeliums für alle Menschen beitragen (nicht „nur“ für Menschen mit Behinderung).
Disability Hermeneutik kann überdies zu einem alternativen Verständnis von Heil und Heilung beitragen, wie es unter anderem der bereits verstorbene, im Rollstuhl sitzende Theologe Ulrich Bach anregt[16], denn Menschen mit Behinderung verspüren angesichts der in Kirche und Theologie vorherrschenden und einseitig aufgelösten Deutungsstrategien nicht selten Wut, Ohnmacht und Verzweiflung.
Ein solches Vorgehen widersprach (mit Blick auf die angeführte Perikope) den gesellschaftlichen Normen nicht nur weil zu lesen ist, dass „Arme, Krüppel, Lahme und Blinde keine Gegeneinladung aussprechen können (14b), sondern weil solche Gäste im Gegensatz zu den sonst Eingeladenen an sich schon unattraktiv, ja eine ärgerliche Zumutung sind.“[17] Die Absurdität der jesuanischen Aufforderung kann daher nur als eine eschatologische Deutung vor dem Hintergrund der kommenden Gottesherrschaft verstanden werden. „Wer Arme, Krüppel, Lahme und Blinde einlädt, welcher Gestalt sie auch sein mögen (der menschlichen Fantasie und Sensibilität sind hier keine Grenzen gesetzt), der baut mit am Reich Gottes schon auf Erden.“[18]
Unbestritten ist, dass der biblische Autor damit aus der Perspektive eines gesunden, nicht behinderten Menschen denkt und schreibt.
Als Betroffene*r liest sich der Text freilich ganz anders: Er ist an Stigmatisierung und negativer Etikettierung nicht zu übertreffen. Auf Kosten von Menschen mit Behinderung wird spirituelles Kapital akkumuliert. Offen bleibt die Frage, ob auch Menschen mit Behinderungen aktiv an der Mitgestaltung und Erfüllung der Basilea Gottes beteiligt sind oder ob behindert-sein per se schon das Qualitäts- und Zugangskriterium ausmacht. Die Lesart legt einen exklusiven Zugang zum Reich Gottes nahe.
Die Körper- und Sinneserfahrungen von Menschen mit Behinderung werden gebraucht, um Heilung als Kennzeichen des Gottesreiches zu demonstrieren. Damit bezieht sich das mehrheitlich nicht behinderte Gottesvolk auf Erfahrungen, die ihnen nicht gehören und von denen sie nichts verstehen.[19] Natürlich stellt eine Behinderung im Alltag in vielen Situationen eine Herausforderung dar, doch nicht alle Menschen wollen zwangsläufig von ihrer Einschränkung geheilt werden. „Christ*innen haben gelernt diese Metaphern und Bilder als Zeichen der Befreiung, Neubeginn und Hoffnung zu verstehen, implizit erzählen diese aber von einem Anpassungs- und Normalisierungsdiskurs.“[20]
Es braucht eine Neukonzeptionierung und Resymbolisierung christlichen Fundamentaldenkens. Die im Rollstuhl sitzende Theologin Nancy L. Eiesland mahnt daher ein es brauche kirchlicherseits einen reflektierten Umgang an Körper- und Normpolitik und entfaltet weiter, dass uns Christus als Gekreuzigter (wohl wirkmächtigste Symbol christlicher Religion) als versehrt und behindert begegnet) Diese veränderte Sichtweise kann nicht nur für Menschen mit Behinderung, sondern für alle Menschen zu einem veränderten Bibel- und Glaubensverständnis führen.[21]
Eben darin liegen für Kirche und Theologie die Herausforderungen der Zukunft: Aus einer Theologie zu schöpfen, die der in unserer Gesellschaft stattfindenden Diversität offen, bereichernd und wertschätzend begegnet und ein aktives Mitgestalten marginalisierter Gruppen zulässt. Die Kinder- und Jugendpastoral muss und kann in diesem Prozess (besonders in der Sensibilisierung und Bewusstseinsbildung) aktiv mitgestalten.
In diesem Sinne packen wir’s an – es gibt noch viel zu tun!
Gregor Steininger, MEd ist katholischer Religionspädagoge und Peerberater bei der WAG Assistenzgenossenschaft.
Masterarbeit Gregor Steininger
[1] Vgl. Kollmann 2007, S. 22-24
[2] Vgl. insbesondere Thomas 2014, S. 73 -88
[3] Steininger 2022, S.10-11
[4] Steininger 2022, S. 14-15
[5] Aktion Mensch: Inklusion, URL: https://www.aktion-mensch.de/dafuer-stehen-wir/was-ist-inklusion
[6] Steininger 2022, S.18
[7] Pemsel-Maier et al (Hg.) 2014, S.9
[8] ebd, S.10
[9] ebd, S. 56-57
[10] Steininger 2022, S. 18-19
[11] Anti-Bias versteht sich als ein pädagogisches Konzept, dass sich mit Differenzmerkmalen und der daraus entstehende Diskriminierung auseinandersetzt
[12] Steininger 2022, S. 52-54
[13]Perspektivenmodell der Behinderung: STEININGER 2022, S. 35-54
[14] Tabelle entnommen aus: Schiefer Ferrari 2012, S.18
[15] Schweitzer 2011, der darin seinen Ansatz des Theologisierens und Philosophierens mit Kindern und Jugendlichen vorstellt
[16] Siehe dazu Steininger 2022, S. 51-53
[17] Hotze 2007, S. 214-260, zitiert nach Schiefer Ferrari 2012, S. 13
[18] ebd.
[19] Steininger 2022, S. 46-50
[20] ebd, S. 10
[21] ebd, 37-39
Literaturverzeichnis:
AKTION MENSCH: Abbildung Inklusion, URL: https://www.aktion-mensch.de/dafuer-stehen-wir/was-ist-inklusion, [letzter Zugriff am 21.01.2023]
HOTZE, Gerhard: Lk 14,1.7-14, URL: http://www.perikopen.de/Lesejahr_C/22_iJ_C_Lk14_7-14_Hotze.pdf, [letzter Zugriff: 15.10.2022]
KOLLMANN, Roland: Religion und Behinderung. Anstöße zur Profilierung des christlichen Menschenbildes, Neukirchen-Vluyn 2007
PEMSEL-MAIER, Sabine et al (Hg.): Inklusion!?. Religionspädagogische Einwürfe, Freiburg im Breisgau, 2014
THOMAS, Günter: Behinderung als Teil der guten Schöpfung Gottes? Fragen und Beobachtungen im Horizont der Inklusionsdebatte, in: EURICH, Johannes et al (Hg.): Behinderung – Profile inklusiver Theologie, Diakonie und Kirche, Stuttgart 2014
SCHIEFER-FERRARI, Michael: (Un)gestörte Lektüre von Lk 14,12-14 Deutung, Differenz und Disability, in: GRÜNSTÄUDL, Wolfgang et al (Hg.): Gestörte Lektüre. Disability als hermeneutische Leitkategorie biblischer Exegese, Stuttgart 2012
SCHWEITZER, Friedrich: Kindertheologie und Elementarisierung. Wie religiöses Lernen mit Kindern gelingen kann, Gütersloh 2011
STEININGER, Gregor: Inklusion als partizipativer Prozess im Kontext einer Theologie der Behinderung. Religionspädagogische Einwürfe, (Masterarbeit) Universität Wien 2022